04 Opa Willi’s Weg 

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Opa Willi’s Weg


Opa Willi war mein Lieblingsopa! Mit ihm habe ich viel erlebt. Das Zusammensein mit ihm war irgendwie immer schön. Bei ihm konnte ich viel loswerden, wenn es zuhause mal nicht so toll war. Und das kam leider sehr oft vor. Er hat zugehört. Mit wenigen – fragenden - Worten hat er mich verstanden. So wie er konnte mich keiner trösten.


Zu seinem Lebenslauf kann ich eigentlich gar nicht viel sagen. Nur das: Er war verheiratet mit Oma Herta. Als junger Mann hatte er das Handwerk des Brunnen- und Pumpenbauers erlernt. Während dieser Arbeit verletzte er sich an den Augen und konnte nur noch wenig sehen. Oma Herta und Opa Willi hatten drei Kinder: Zwei Töchter - Christa und Herta - und einen Sohn - Meinen Vater, Erwin.


Im Krieg musste Opa Willi die Familie aus Hamburg weg – in Sicherheit – bringen. Die Bombenangriffe kamen so nah, dass die Ausbombung drohte. Was dann später auch geschah. Opa Willi hatte ein Fahrrad mit einem Anhänger. Trotz seiner geringen Sehkraft hat er die Kinder jeweils im Anhänger des Fahrrades bis nach Schwerin gefahren. Das hat er etappenweise gemacht. Zuerst ein Kind für ca. 20 Kilometer. Dann hat er das Kind dort im Graben zurückgelassen und das nächste nachgeholt. So lange, bis alle in Sicherheit waren.


Später erblindete mein Opa ganz. Operationen brachten keine Besserung. Ganz im Gegenteil: Nach der letzten Operation war Opa Willi ganz blind. Er konnte nichts mehr sehen und bekam Glasaugen eingesetzt. Das war sehr schwer für ihn. Aber er lernte, sich damit zurecht zu finden.

Die Kartoffel: Als ich so ungefähr zehn oder elf Jahre alt war, fuhr ich nach der Schule oft zu Oma und Opa. Meine Oma machte Mittag und wir aßen gemeinsam. Auch wenn Opa Willi gar nichts mehr sah, benutzte natürlich Messer und Gabel. Nur - diesmal ging es schief. Er lud eine Kartoffel auf die Gabel und wollte sie in den Mund schieben. Die Kartoffel fiel aber auf den Teller zurück. Opa Willi steckte die leere Gabel in den Mund. Ich musste lachen. Opa Willi schmunzelte. Oma Herta war wütend. Sie schimpfte: "Du kannst Opa doch nicht auslachen. Er hat es schwer genug. Was würdest du wohl machen, wenn du nichts sehen könntest? Schäm dich!" Ich sagte nichts mehr. Mir war das peinlich und unangenehm. Ich fühlte mich schuldig!


Opa Willi schien das mit der Kartoffel aber gar nichts ausgemacht zu haben. Er probierte es einfach noch einmal. Und siehe da, es klappte. Zum Schluss war der Teller ganz leer. Ohne diese Kartoffel wäre es mir gar nicht aufgefallen, dass Opa Willi blind gewesen ist. Oder was es für ihn eigentlich bedeutete, blind zu sein.


Blindenschrift: Opa Willi fand sich immer besser mit seiner Blindheit zurecht. Er trat in den Blindenverein ein und erlernte die Blindenschrift. Diese Schrift nannte er Punktschrift. Die konnte er sogar schreiben. Dafür hatte er einen Metallrahmen, in dem es kleine rechteckige Löcher gab. Darunter wurde ein dickes Papier eingeklemmt und dann drückte er mit einem Teil, das wie ein Milchdosenpickser aussah, Punkte von rechts nach links spiegelverkehrt in das Papier. Dadurch gab es im Papier hervorstehende Punkte. Diese konnte er dann umgedreht mit den Fingerspitzen ertasten. So lernte Opa Willi neu lesen und schreiben.


Fingerspitzengefühl: Es gab ganze Zeitschriften – wie den Stern - und Bücher in dieser Punktschrift. Opa Willi hat mir oft laut vorgelesen. Er war mit den Fingern so schnell, wie ich mit den Augen. Das hat mich beeindruckt. Opa Willi hatte Fingerspitzengefühl. Das galt für mich auch – und besonders - im übertragenen Sinn. Er wusste genau, wie er mit mir umzugehen hatte.


Schreibmaschine: Die Technik war damals allerdings noch nicht so weit wie heute. Opa Willi wollte auch so schreiben können, dass andere es mit den Augen lesen konnten. Also kaufte er sich eine ganz normale Schreibmaschine. Es war eine knallorange von "Triumph". Auf zwei Buchstaben hatte Opa Willi sich jeweils eine Niete setzen lassen, so dass er einen Anhaltspunkt für seine Finger hatte. Dann lernte er von dort aus die Lage der Buchstaben. Bald konnte er "Zehn-Finger-blind" tippen! Dabei machte er erstaunlich wenig Fehler. Und wenn er mal einen gemacht hat, konnte er sich so darüber ärgern, dass er alles noch einmal getippt hat.


Oma Herta brach sich ein Bein: Dieser Beinbruch war im wahrsten Sinne des Wortes ein "echter Beinbruch". Wirklich kompliziert. Oma Herta musste operiert werden. Die Wunde heilte aber nie richtig und die Operation war nicht erfolgreich. Seitdem hatte sie immer Schmerzen und konnte nur noch am Stock gehen. Sie brauchte Hilfe. Hilfe, die Opa Willi ihr nicht geben konnte. Der ersten Operation folgten viele, viele weitere. Immer in der Hoffnung, es würde Besserung eintreten. So war Oma lange Zeit in Krankenhäusern und Opa Willi war auf sich gestellt.


Opa lernte einen neuen Beruf: Das klappte zuerst ganz gut. Opa Willi erlernte mit Hilfe des Blindenvereins einen neuen Beruf. Er wurde Bürsten- und Besenmacher. Dafür wurde eine Werkstatt im Keller ein- gerichtet. Opa Willi bekam eine kleine Maschine, mit der er die Borstelbüschel per Draht in die vorgebohrten Hölzer ziehen konnte. So stellte Opa Willi allerlei Bürsten und Besen her. Und die waren handgemacht und von richtig guter Qualität.


Opas Werkstatt hatte einen ganz besonderen Duft. Es roch nach den Borsten verschiedener Tiere. Dazu kam Opa Willis Birkin-Haarwasser und sein Franzbrandwein, mit dem er sich immer die Beine einrieb. Diese Duftmischung war ganz eigen. Und wenn man das Haus betrat, duftete das ganze Treppenhaus nach meinem Opa.

Unterwegs: Wenn Oma wieder einmal im Krankenhaus lag, machte ich mich Opa Willi auf den Weg. Wir waren dann mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Der weiteste Weg führte in die Endoklinik mach Wintermoor. Das war irgendwo in der Heide. Für uns beide eine aufwändige Fahrt mit mehreren Umstiegen. Eine Weltreise. Für ein paar Stunden bei Oma waren wir den ganzen Tag "auf Achse".


Armbinde: Bei diesen Touren achtete Opa Willi immer auf seine Armbinde, die er sich über seinen linken Ärmel zog. Sie war gelb und hatte drei schwarze Punkte. Zusammen mit seinem weißen Geh-Tast-Stock war er so schon von weitem als "Blinder" erkennbar. Meist hakte ich mich dann am anderen Arm ein, so dass ich ihn einfach führen konnte. Manchmal legte er mir auch seine Hand auf meine Schulter, ging einen Schritt hinter mir und ließ sich so leiten.


So gab es mit Opa Willi viel Körperkontakt. Wir waren uns sehr nah. Manchmal stand ich stundenlang neben ihm und beobachtete ihn beim Bürstenmachen. Zusammen stapelten wir dann die fertigen Bürsten und banden sie zu Bündeln zusammen, die dann vom Blindenverein abgeholt wurden.


Samstags vorm Radio: Das Schönste mit Opa Willi war aber der Samstagnachmittag. Da saßen wir gemeinsam vor seinem Nordmende Radio (Opas ganzem Stolz und seinem Kontakt zur Außenwelt) und verfolgten gebannt die Fußballbundesligaübertragung. Da durfte uns niemand stören. Das war unsere Zeit. Wir fieberten mit dem HSV. Freuten uns bei Siegen und litten bei den Niederlagen. Daran erinnere ich mich sehr gerne zurück. Damit verbinde ich große Nähe und Geborgenheit.


Abschied: Umso erstaunter war ich, als Opa Willi eines Sonnabends sagte, wir würden uns nicht wieder sehen. Er nahm mich in den Arm und gab mir einen Abschiedskuss. Das war merkwürdig. Aber ich verstand nicht, was das bedeutete. Ich erzählte es meinen Eltern. Auch sie konnten das nicht verstehen oder einordnen.

17. Juni 1982! An diesem Tag starb Opa Willi! Er hatte sich in seiner Werkstatt mit einem Strick das Leben genommen. Warum? Das habe ich damals und lange Zeit später nicht verstanden. Er hatte sich von mir verabschiedet und ich hatte das nicht begriffen, obwohl ich ein merkwürdiges Gefühl hatte. Wieder fühlte ich mich schuldig. Wie damals mit der Kartoffel.


Damals war ich unendlich traurig. Darüber gesprochen wurde nicht. Jedenfalls nicht mit mir. Der, mit dem ich über alles reden konnte, war nicht mehr da. Opa Willi! Sein typischer Duft hing noch lange im Treppenhaus. Aber die Werkstatt gab es nicht mehr. Die Besuche bei Oma Herta wurden immer weniger.


Opa Willi war kein Kirchenmensch. Was oder woran er geglaubt hat, weiß ich nicht. Aber er hatte Prinzipien und ein großes Gerechtigkeitsgefühl. Und er war herzlich! Kein Mann großer Worte. Er hat eher gehandelt und dabei vieles allein mit sich selbst abgemacht. Ich weiß, dass er immer Angst hatte, meiner Oma, die so krank gewesen ist, mit zunehmendem Alter zur Last zu fallen. Für dieses Problem sah er keinen Ausweg. Da war er hilflos und ohnmächtig. Das hat ihn zermürbt.


Trauerfeier: Opa Willi wurde auf dem Friedhof bei der Emmaus-Kirche Hamburg-Hinschenfelde an der Walddörferstraße beerdigt. Da er aber nicht in der Kirche war, sprach ein Trauerredner ein paar Worte. Ich war mit meinen Gedanken, glaube ich, ganz woanders. Das war nicht mein Opa, über den da geredet wurde. Wenn ich daran zurück denke, erinnere ich mich an Wut und Traurigkeit - und an die bunten Glasfenster in der Emmaus-Kirche: Waren da zwei Menschen zu sehen, die vor Jesus standen?

Am Grab bin ich später nie mehr gewesen. Nichts hat mich dorthin gezogen. Und Blumen mochte Opa Willi, glaube ich, sowieso nicht. Aber ich weiß noch heute, dass er dort begraben wurde. Und immer wenn ich dort in der Nähe vorbeifahre, denke ich an damals. Im Stillen sage ich Opa Willi hallo! Als ich später einmal selbst jemanden auf diesem Friedhof beerdigt habe, habe ich Opa Willis Grab besucht und den Stein mit dem Handy fotografiert. Das war schön und wichtig für mich.


Opa Willis Tod war lange ein Tabu. Darüber – über ihn - wurde nie mehr gesprochen. Und auch ich selbst habe die Gefühle, die ich damals hatte, tief vergraben - totgeschwiegen. Mit begraben – beerdigt - sozusagen. Mit Opa Willi ist auch ein Stück von mir gestorben. Worte und Gedanken hatte ich dafür nicht. Das ist unaussprechlich gewesen. Mir blieb die knallorange "Triumph" Schreibmaschine. Mehr nicht.


Oder? Erst viel später – nach vielen Jahren und Gesprächen - habe ich von meinem Opa richtig Abschied nehmen können. Da konnte ich dann um ihn weinen und meiner Trauer Ausdruck geben. Und ich konnte auch spüren, was Opa Willi mir für mein Leben mitgegeben hat: Das Gefühl der Geborgenheit und das Sich Geliebt- und Verstandenfühlen. Ohne ihn hätte ich dieses Gefühl so wohl nie erlebt.


Und heute hat dieses Gefühl einen festen Platz in meinem Leben. Ich kann mich daran erinnern und ich kann es spüren und weitergeben. Und manchmal meine ich sogar, den Duft von Borsten, Birkinhaarwasser und Franzbrandwein in der Nase zu haben.


Was hat Opa Willi mit Jesus zu tun? Auf den ersten Blick haben beide natürlich gar nichts miteinander zu tun. Sie sind sich logischerweise nie begegnet und Opa Willi hatte, soweit ich weiß, keine Beziehung zur Kirche oder zum Glauben an Gott. Und dennoch ist meine Geschichte mit Opa Willi für mich so etwas wie ein Schlüssel zu Jesus und den Erfahrungen, die Menschen mit ihm gemacht haben, die ich selbst mit dem Glauben gemacht habe!


Warum? Eigentlich weiß ich gar nicht viel von Opa Willi. Sein Lebenslauf ist mir weitestgehend unbekannt. Ich weiß nicht, wann und wo er geboren wurde. Ich weiß nicht, wer seine Eltern waren und wie viele Geschwister er hatte. Die Details seines Lebens sind mir nicht bekannt.


Und dennoch ist Opa Willi einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und für mein Leben geworden. Für mich als Kind und Jugendlicher war es nicht wichtig, etwas Genaues über seine Herkunft zu wissen. Er war einfach für mich da. Ich habe ihn auf meine ganz persönliche Art und Weise kennen gelernt und eine ganz eigene Beziehung zu ihm gehabt. Das, was ich mit ihm erlebt habe, ist für mich wichtig. Das, was er in mir angeregt und ausgelöst hat. Das, was mich das Gefühl der Geborgenheit der Annahme und der Liebe hat erleben lassen.


Das hat für mich Bedeutung. Lebensdaten und Äußerlichkeiten würden meinen Opa Willi nicht wirklich beschreiben können. Opa Willi ist für mich durch die gemeinsamen Erlebnisse bedeutsam geworden. Und vielleicht gibt es diesen Opa Willi nur einmal, nämlich für mich!


Für meinen Vater mag Opa Willi ganz anders gewesen sein. Klar, sie waren Vater und Sohn und das ist nun mal eine ganz andere Beziehung.


Um jemanden wirklich kennen zu lernen, muss man eine Beziehung zu ihm aufnehmen. Man muss sich ihm nähern und sich ihm öffnen. Man macht gemeinsame Erfahrungen und wird sich dadurch vertraut. So erlebt man ein Stück des Lebens gemeinsam.


Solchen Erlebnissen möchte ich Raum geben. Davon möchte ich dir erzählen, wenn es um Jesus geht. Dabei nehme ich die Lebensthemen von meinem Opa und mir und beziehe sie auf Erzählungen aus der Bibel.


Du wirst merken, je mehr Bibelerzählungen du kennenlernst, desto mehr Zusammenhänge werden erkennbar. Es kommen ganz von allein weitere Themen hinzu. Ich versuche jeweils in aller Kürze darauf einzugehen, will aber grundsätzlich bei meinem Opa, mir und den ausgewählten Bibelerzählungen bleiben. Manch Weitergehendes führe ich, wie du schon gemerkt hast, in den Anmerkungen aus. Diese kannst du erst einmal „überlesen“. Darin ist aber so mancher Schatz verborgen, der dir vielleicht später mal hilfreich sein kann. Je mehr du dich mit „Glauben ist nicht wissen, oder?“, der Bibel und deinem eigenen Glauben beschäftigst, desto mehr Fragen und Antworten werden sich dir erschließen, desto mehr wirst du diesen Schatz heben. Dieses „Glauben ist nicht wissen, oder?“ Buch kannst du also immer wieder zur Hand nehmen und darin nachschlagen! Dich erinnern und neues finden!