09 Erste Erfahrungen mit einer Bibelerzählung 

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09 Erste Erfahrungen mit einer Bibelerzählung


Nun hast du die ersten Erfahrungen mit einer (meiner) Bibelerzählung gemacht. Wie ist es dir damit ergangen? Was ist dir aufgefallen? Was kam dir fremd vor? Womit hattest du Schwierigkeiten? Was hat dir gefallen? Was denkst du jetzt über die Bartimäuserzählung?


Fofftein! Nimm dir ein wenig Zeit, um dir über diese Fragen Gedanken zu machen. Blättere ruhig noch einmal in deiner Bibel nach!


Wie sieht man richtig? Ich habe die Bartimäuserzählung ausgewählt, weil das Thema Blindheit in Beziehung zu meinem Opa Willi große Bedeutung gehabt hat. Er war dadurch eingeschränkt, stand oft außen vor, war auf Hilfe anderer angewiesen. Aber Opa Willi hat dadurch vieles gelernt und stärker ausgeprägt. Er konnte besonders gut hören, tasten, riechen und schmecken. Dadurch hatte er seine mangelnde Sehfähigkeit ausgeglichen. Und manchmal denke ich, dass er im übertragenen Sinn besser sehen konnte. Er nahm sich einfach Zeit. Er sorgte für Regeln. Er tat alles in Ruhe. Sein Gehör und sein Fingerspitzengefühl waren nicht nur sprichwörtlich. Nein, er konnte Dinge und Situationen wahrnehmen, die anderen verborgen geblieben sind. Für mich sah einfach weiter!


Ähnlich scheint es mit der Bartimäuserzählung zu sein. Im Markusevangelium hat sie eine wichtige Funktion. Sie steht an entscheidender Stelle. Es ist der Übergang Jesu von Galiläa Richtung Jerusalem. Er scheint geahnt zu haben, was dort auf ihn zukommen würde. Er wusste, dass dort entscheidendes passieren würde. Und – er hat versucht seine Freunde darauf einzustimmen. Dreimal hatte er versucht mit ihnen direkt darüber zu sprechen. Nur konnten sie es nicht verstehen und wollten sie es nicht wahrhaben. Sie hatten eine andere Vorstellung von dem, was geschehen würde. Ganz konkret! Sie haben wohl erwartet, dass die Besatzung der Römer ein Ende haben würde. Ganz anders Jesus: Er sah voraus, dass die weltliche Macht stärker sein würde als seine Worte vom Reich Gottes. Er wusste, dass er mit seiner Art und Weise die Mächtigen herausfordern würde und diese ihn aus dem Weg schaffen wollten. Er sah sich aber grundsätzlich auf der Seite der Schwachen und Ohnmächtigen! Gewalt war für ihn ausgeschlossen.


Liebe und die Barmherzigkeit Gottes kann für Jesus nur durch entsprechendes menschliches Handeln – durch menschliche Zuwendung – erkennbar werden. Deshalb lehnt er macht- und gewaltvolles Eingreifen ab!


Der Blinde - Bartimäus - spricht nun als erster öffentlich aus, wer Jesus ist: Sohn Davids! Jemand, der Kraft hat, Grenzen zu überwinden, neue Gemeinschaft, neues Leben zu ermöglichen! Was die Freunde Jesu nicht sehen wollen, wird ihnen durch Bartimäus vor Augen geführt. Jesus kommt es auf die persönliche Beziehung zu Gott, auf den eigenen Glauben an.


Man sieht nur mit dem Herzen gut! In einem anderen Buch, das zu meinen Lieblingsbüchern zählt, „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint- Exupéry, vertraut der Fuchs dem kleinen Prinzen ein Geheimnis an:


„Man sieht nur mit dem Herzen gut,

das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar!“


Vielleicht geht es bei Jesus genau um diese Art des Sehens. Um eine tiefere Wahrnehmung. Um das, was zu Herzen geht! Das mag auch daran liegen, dass Gott grundsätzlich unsichtbar – transzendent - und somit für die Augen und unsere äußeren Sinne nicht erfassbar ist.


Nicht die Gesunden, nicht die, die alles zum Leben haben, nicht die Religiösen - die Frommen - erkennen die Bedeutung Jesu. Sie haben gar nicht das Bedürfnis nach dieser tieferen Wahrheit. Sie haben sich gut eingerichtet in ihrem alltäglichen Leben, in ihren Ritualen. Sie verspüren nicht den echten Wunsch nach mehr! Im Gegenteil: So eine Sehn- sucht kann sie aus der je eigenen Bahn werfen. So ein Hilfeschrei wird niedergeschrien. „Pssst, sei doch still, du störst! Da wird unbequemes dann lieber verdrängt und ausgegrenzt: So gehörst du nicht dazu!“


Wie sie sich irren, zeigt uns die Bartimäuserzählung. Es ist kein Wunder, dass ein blinder Bettler Jesus wirklich erkennt und beim Wort nimmt. Er lebte schon so lange im Dunkel seiner Blindheit. Tief am Boden! Gekauert an einer Mauer. Bestraft. Auf mehr als ein Almosen konnte er nicht hoffen. Selbst Schuld. Irgendwas muss er schon angestellt haben, um so von Gott geschlagen zu werden. Das Schlimmste ist, dass Bartimäus selbst schon so denkt, dass er sich in sein Schicksal gefügt hat, dass er seinen Platz am Rand der Gesellschaft im Laufe der Zeit angenommen hat. Oder?


Die Begegnung mit Jesus verändert: Nein, Bartimäus hat sich nicht aufgegeben. Als er hört, dass Jesus aus Nazareth in der Nähe ist, passiert etwas. Es geht ein Ruck durch den Kopf und den ganzen Körper – Durch Mark und Bein!Jetzt, genau jetzt ist es so weit. Wenn nicht jetzt, wann dann? Nicht mehr warten. Nicht mehr abspeisen lassen. Da ist der Lebensgeist. Da ist die Kraft. Die Stimme. Der Schrei. Und mit dem Schrei das Bekenntnis: Jesus, du kannst mir helfen! Wirklich! Komm! Jetzt gebe ich keine Ruhe mehr. Das habe ich sonst immer ge- tan. Jetzt lasse ich mir nicht mehr den Mund verbieten. Jetzt will ich sagen, was mir fehlt. Jetzt weiß ich, was notwendig ist, was meine Not wenden kann: Jemand, der mich ansieht. Der mich sieht, wie ich bin. Der durch meine Augenbinde hindurch in die Tiefe meiner Seele blicken kann. Der mich nicht verurteilt und richtet sondern mich annimmt und mich aufrichtet. Jemand, bei dem ich Ansehen habe!


Für mich gehen die Jesuserzählungen weit über das Sichtbare hinaus.

Sie gehen den Menschen und den Situationen, in denen sie sich befinden, auf den Grund und bringen etwas hervor, was im alltäglichen Leben langsam aber stetig verschüttet und verfestigt worden ist. Diesen Zusammenhang des „sich dran gewöhnt Habens“ stellt Jesus in Frage. Er setzt ihn sozusagen außer Kraft. Alte Verhaltensweisen brechen auf. Neue Energie wird freigesetzt. Der veränderte Blickwinkel, das neue Selbstbewusstsein: Im Erkennen Jesu können Menschen sich - kann ich mich - selbst erkennen: Dein Glaube hat dir geholfen!