08 Meine eigene Bartimäuserzählung 

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08 Meine eigene Bartimäuserzählung 

nach Mk.10,46-52


Es ist früh am Morgen.


Der Weg, den Jesus mit seinen Freunden vor sich hat, ist anstrengend. Sie wollen nach Jerusalem hinaufziehen. Das ungefähr 1100m höher gelegen und mit 25km eine gute Tagesreise entfernt. 


Hier in Jericho konnten sie ausruhen. Diese uralte Oase spendet Schatten, Lebensmittel und Wasser. Und natürlich die neusten Nachrichten. Hier kommen Menschen von überall her zusammen. Hier wird neue Kraft für den weiteren Weg geschöpft.


Ein kühler angenehmer Morgenwind lässt die Palmenblätter rascheln. Noch einmal tief durchatmen und dann wird sich auf den Weg gemacht.


Ein großes Fest liegt vor ihnen. Ein Fest, zu dem alle Frommen, Gläubigen und auch viele andere hinauf zum Tempel nach Jerusalem pilgern. Passa. Das Passalamm am Tempel zu opfern und dann innerhalb der Mauern Jerusalems in der Familie oder der religiösen Gemeinschaft zu essen, gilt als Pflicht. 


Diese Pflicht zu erfüllen war gar nicht so einfach. Man brauchte Geld dafür. Das wurde dann am Tempel in das „kultisch reine“ Tempelgeld gewechselt. 


Und mit diesem Tempelgeld konnte man dann ein kultisch reines Lamm kaufen. Dieses wurde dann von den Tempelpriestern geschächtet, so wie es das Gesetz vorgesehen hatte.


Außerdem musste auch die Tempelsteuer entrichtet werden und für dies oder das brauchte man eben auch noch ein paar Geldstücke. Darauf mussten Familien hin sparen. Und auf dieses Geld wurde gut aufgepasst, denn ohne dieses Geld konnte man nicht am Passafest teilnehmen.


Das wusste natürlich auch Bartimäus. Zu dieser Zeit war Hochbetrieb. Diese Tage und Wochen vor Passa waren in Jericho die lukrativsten. Als Kranker und obendrein als Bettler waren das die besten Tage im Jahr.


Also früh aufstehen und sich den guten Platz nahe des Stadttores sichern. Hier müssen alle durch, die nach Jerusalem hinauf wollen. 


„Und, wenn ich schon nicht an diesem Zug teilnehmen darf, weil ich ihnen als unrein gelte, dann sollen sie wenigstens etwas von dem Geld abgeben. So sieht es doch auch das Gesetz vor. Aber das ist eben Auslegungssache. Die meisten drücken sich vor dieser Pflichterfüllung und schleichen sich leise an mir vorbei!“ dachte sich Bartimäus. „Wenn die wüssten, dass ich sie trotzdem an ihren Geräuschen erkennen! Wenn ich auch nichts sehe, hören kann ich dafür umso besser!“


So bezieht er Stellung und kauert sich auf seinem lange nicht gewaschenen Mantel an die Stadtmauer und stellt seine Essschale auf, in die die vorbeigehenden Leute dann ihre Opfergabe für ihn geben können.


Seine Augen sind wie immer mit einem Tuch verbunden. So sehen alle, dass er blind ist und so müssen sie den Anblick seiner starren Augen nicht über sich ergehen lassen.


Langsam wacht Jericho auf. Esel schreien, am Brunnen wird Wasser geschöpft und in die Ziegenlederbeutel gefüllt, die dann mit auf den anstrengenden Weg genommen werden.


Bartimäus kann schon einige Stimmen hören, die die bekannten Wallfahrtslieder vergegenwärtigen. So klingt aus einer Ecke: „Aus tiefer Not ruf ich zu dir, Herr, Gott, vernimm mein Schreien“ und tatsächlich hört es sich eher an wie ein Schreien als wie ein Singen.


Mütter rufen ihre Kinder zusammen, die Männer organisieren den Wallfahrtszug. Es gibt gewisse Regeln, die es einzuhalten gilt. Es gibt eine Abfolge an Liedern, an Bekenntnissen und Ritualen. Jetzt gilt es, Gott die Ehre zu erweisen. Im Ritual werden Sünden bekannt, und um Vergebung gebeten. Es wird sich gereinigt und gepeinigt.


Hier in Jericho geht es los. „Aus der Tiefe schreie ich, Gott, zu dir!“ Ja, aus der Tiefe. Hier in Jericho ist das wörtlich zu nehmen. So ziehen sie los. Aus der Tiefe des Jordangrabens!


Es ist ein heiliger Singsang. Vieles geht durcheinander. Und doch ist alles irgendwie geordnet.


Die ersten scheinen losgegangen zu sein. Bartimäus kann sie schon hören. Aber diese erste Gruppe scheint nicht zu singen. Sie unterhalten sich. Bartimäus versteht nur Bruchstücke. Aber den Dialekt kann er zuordnen. Das sind Männer aus dem Norden, aus Galiläa. Und aus der folgenden Menge hört er öfter den Namen Jeshua. Das war nicht ungewöhnlich, so „Gott errettet“ hießen damals viele Männer. Als dann auch noch der Name Nazareth fällt, ist für Bartimäus alles klar. Es muss der Jeshua aus Nazareth sein. Der, von dem er schon so viel gehört hatte. Und der von vielen nicht mit seinem jüdischen Jeshua sondern mit dem griechischen Jesus genannt wurde.


„Wenn das wirklich wahr ist, ist das jetzt meine einzige Chance!“ dachte sich Bartimäus. Alles drehte sich in ihm. „Jesus aus Nazareth, der mit Vollmacht spricht. Der die Menschen berührt und aufrüttelt. Der es geschafft hat, Kranke zu heilen. Der Sünder und Außenseiter in seine Nähe gelassen haben soll. Wenn er jetzt wirklich hier an mir vorbei geht, dann muss ich auf mich aufmerksam machen! Na, los worauf wartest du denn noch. Gleich ist er weg.“ Bartimäus ist außer sich.


Und dann platzte es tatsächlich aus ihm raus: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“


Wie oft hatte er schon gesagt: „Herr, erbarme dich meiner“ und hatte seine Essensschale hingestreckt. Ohne Erfolg. Oder wenn, dann war es kaum der Rede wert.


Und jetzt war er gar nicht demütig und zurückhaltend. Er schrie so laut er konnte. „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“


Die Menschen in der Menge drehen sich erschrocken zurück. Ihr Wallfahrtsgesang „Aus der Tiefe schreie ich, Herr, zu dir...“ wurde durch diesen ohrenbetäubenden Schrei des Bartimäus beendet.


Entsetzen machte sich breit. Ein Unreiner stört die heilige Prozession. Wie mit einer Stimme zischen sie: „Pst, sei doch still!“


Aber da schreit wirklich jemand aus der Tiefe. Ganz von unten. Sie hatten ihn gar nicht gesehen, obwohl sie genau wussten, dass er immer da sitzt. Sie hatten ihn nicht im Blick. Ihre Augen waren voll frommem Glanz und auf etwas ganz anderes gerichtet.


Bartimäus schreit aus der Tiefe seiner Dunkelheit. Das ist kein frommer Singsang sondern das einzige, was er noch kann: Schreien! Er schreit um sein Leben. Er schreit noch einmal und noch viel lauter: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ So hatte Jesus noch niemand bezeichnet. Jetzt ist es raus. Jesus ist der, der als Retter Israels erwartet wurde. Er, Jesus, ist der neue König David.


Jesus bleibt stehen und unterbricht das Gespräch mit seinen Jüngern. Er fragt nichts. Er sagt einfach: „Ruft ihn her!“


Und sie gehorchen. Widerwillig aber gehorchen. Sie rufen: „Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!“


Eben hatten sie ihn noch zum Schweigen bringen wollen. Störungen waren nicht vorgesehen. Und nun das: „Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!“


Er, gerade er wird gerufen. „Jesus ruft mich!“ freute sich Bartimäus. „Er ruft mich tatsächlich!“


Bartimäus springt auf, lässt seinen Mantel fallen und kommt zu Jesus.

Die Umstehenden sind entsetzt. Sie denken: „Wie einen König ruft er diesen blinden Bettler zu sich. Wie kann er nur?!“


So was tut man als Sohn Davids nicht! Oder? Wie sie sich irren! Wurde David nicht genauso gerufen. Der unscheinbarste, der, der eigentlich nicht in Frage kam?


„Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Ohne lange Umschweife. Jesus fragt Bartimäus. Er nimmt ihn ernst und will wissen, was er eigentlich möchte.


Natürlich könnte er es sich doch selbst denken. Er hatte doch gesehen, dass Bartimäus die Augenbinde trägt. Er hatte doch gesehen, dass er nicht sicher gehen kann.


Und dennoch fragt er ihn: „Was willst du? Was erwartest du von mir?“

„Rabbuni, das ich wieder sehen kann!“ hört Bartimäus sich selber sagen. Auf wie viele andere hatte er geschimpft und sie insgeheim beleidigt. Jesus bringt er Ehrerbietung entgegen. „Rabbuni!“


Er erkennt in Jesus eine neue Lebensmöglichkeit. Von ihm erwartet er, dass er Licht ins Dunkel bringen kann. Licht in sein ganz persönliches Leben. Deshalb diese Vertraute Anrede: „Rabbuni – Mein Meister!“ „Zu gerne würde ich wieder sehen können. Endlich wieder etwas sehen!“


Jesus antwortet: „Geh hin.“


Vielleicht denkt er: „Du hast doch viel mehr gesehen als all die anderen. Du hast nicht blindes Vertrauen in mich gesetzt, sondern all deinen Mut und deinen Glauben in die Waagschale geworfen.“


„Dein Glaube hat dir geholfen!“


Mehr sagt Jesus nicht. Er bestärkt Bartimäus in seinem Mut und seinem Vertrauen. Das hilft!


Der, der blind mehr gesehen hat als so manch Sehender... ...nun kann Bartimäus sich dem Wallfahrtszug anschließen.


Er wird mitgenommen.