Erinnern-Verlinnerlichen-Äußern

Uns Kirch 62

Jugendfreizeit - Celle

Herbst 2013

Handyfoto: Michael Ostendorf

ERINNERN-VERINNERLICHEN-ÄUßERN


Liebe Leserinnen, 

liebe Leser,


für viele war der 7.Oktober 2023 ein tiefer Einschnitt. Die Nachrichten vom Terroranschlag der Hamas mit der bestialischen Ermordung von über tausend Jüdinnen und Juden ist ein Schock! 


Ich selbst habe davon erst im Laufe des Tages erfahren. 


Wir waren mit Jugendlichen zu einem Wochenende unterwegs. Dort - im Haus Marwede in der Nähe von Celle - hatte es kaum Netz oder WLAN gegeben. 


Im Team überlegten wir am Freitagabend, ob wir die Nähe zu Bergen-Belsen nutzen sollten, um mit den Jugendlichen die dortige Gedenkstätte zu besuchen. Für viele wäre das die erste Begegnung mit dem Nationalsozialismus und dessen Verbrechen. Mit der Ermordung von vielen Millionen Menschen, und der Industriell organisierten Vernichtung jüdischen Lebens in Europa, dem über 6 Millionen Jüdinnen und Juden zu Opfer fielen. 


Das wollte gut vorbereitet sein. 


Nach dem Frühstück machten wir eine Runde und führten mit aller Vorsicht in dieses Thema unserer Geschichte ein. 


Dann machten wir uns auf den Weg nach Bergen-Belsen. Dort angekommen, gingen wir in das 2007 errichtete Dokumentationszentrum. Viele sahen sich intensiv die ausgestellten Dokumente, Utensilien und Fotos an. Manche setzten sich Kopfhörer auf und hörten sich Interviews von Zeitzeugen an. 


Ich selbst machte einige Aufnahmen von kaum auszuhaltenden Fotos, die von englischen Soldaden nach der Befreiung der Lager gemacht worden waren. 


So viele Opfer! 


Tief bewegt machten wir uns alle im Nieselregen auf den Weg nach draußen zu den Massengräbern und den Gedenkorten. 


Erinnerung! Dazu fordern die Denkmäler und Texte auf. 


Erinnerung! Nicht vergessen! Nicht müde werden, sich dieser Geschichte zu stellen. 


Für viele der Jugendlichen war das die erste konkrete Begegnung damit. Sie können sich nicht persönlich erinnern. Sie wurden durch die Texte und die Bilder informiert und mit Erinnerungen damaliger Zeugen konfrontiert. Das hinterließ spürbar Eindruck. Und so ist es vielleicht die Verinnerlichung dieser Berichte und der damit verbundenen Geschehnisse.


Verinnerlichung - Lernen aus der Geschichte! 


Jede und jeder für sich persönlich und wir alle gemeinsam! 


Als wir dann nach kurzem Besuch in Celle auf dem Rückweg waren, wurde ich über das Handy von den Morden in Israel informiert. Gerade nach dem Besuch in Bergen-Belsen war das unvorstellbar! Schrecklich! 


Mir gingen viele Gedanken durch den Kopf. Was ist mit den Menschen, die mir auf Reisen dort zu Freundinnen und Freunden worden waren? Was mit der so zerbrechlichen Gesamtsituation dort in Israel, in Gaza, im Westjordanland? 


In der Abendrunde zeigte ich die Aufnahmen, die ich gemacht hatte, um das gemeinsam Erlebte Revue-passieren zu lassen. Ich berichtete von den Morden in Israel. Nachdenkliche Ruhe. 


Das Verinnerlichte will zur Sprache kommen. Es will raus und sich äußern! 


Aber wie? 


Was kann man denken? Was sagen? Was ist richtig, was falsch? 


Was kann ich tun, damit sich so etwas nicht wiederholt? Nie wieder Krieg! Und doch leben wir mit Kriegen, die uns so nahe kommen. 


Gar nicht so einfach, sich zu äußern oder die eine Meinung zu formulieren. Worte wollen vorsichtig abgewogen werden. Die Lehren aus unserer Geschichte sind nicht so einfach zu ziehen. 


Welche Gewalt ist berechtigt? Welche ist es nicht? Die Morde der Hamas sind durch nichts zu rechtfertigen! Durch rein gar nichts! 


Sind Morde es überhaupt jemals? 


Mischt sich in eine solche Frage nicht auch immer das eigene Denken, das eigene Interesse, die eigene Wertung? 


Führt dieses „Eigene“ dann nicht in die Kontroverse mit den „Eigenheiten“ der anderen? Plötzlich schmälert sich die Wahrnehmung, verringert sich der Horizont, wird allein das Eigene gut - das Fremde falsch. 


Sich darin zu äußern ist schwer! 


Es braucht einen weiten Blick und die Offenheit auch im jeweils anderen den Menschen zu sehen. Wie schwer das manchmal fällt, kann auch im kleinen und privaten erlebt werden. 


Sich darin zu begegnen, scheint mir sinnvoll. Sich der eigenen Erfahrungen zu erinnern und das Verinnerlichte zu äußern. 


Sich mit dem Eigenen ins Gespräch zu bringen und dazu bereit zu sein, dass das Gegenüber es genau so vermag. 


Vielleicht wird eine solche Haltung belächelt und als realitätsfern abgetan. 


Mir persönlich scheint die dauerhafte Logik der Gewalt lebensfern zu sein, da sie immer neue Opfer fordert. 


Jedes weitere Opfer bedeutet Sterben und Tod. Da ist das Leben fern! 


Vielleicht lohnt der offene Blick! Dann erkenne ich auf dem Foto aus Celle den Blumenstrauß, den der Mann gerade werfen will. Blumen! 


In diesem Sinne wünsche ich allen eine gesegnete Adventszeit 


Michael Ostendorf