Jubiläen - Herausforderungen - Gedanken

Uns Kirch 64

Mönch am Meer

Caspar David Friedrich

Liebe Leserin, lieber Leser,


heute, am 22.4.2024, grübele ich über den Gedanken zu diesem Grußwort. Es gibt so vieles zu bedenken, zu organisieren und zu entscheiden. Es ist so vieles im Umbruch. Selbstverständliches steht zur Diskussion. Es versteht sich eben nicht mehr von selbst. Es bedarf der Erklärung. 


Heute jährt sich der Geburtstag von Immanuel Kant (22.4.1724 - 12.2.1804) zum 300. Male. Er hatte seinerzeit den sogenannten kategorischen Imperativ formuliert: 


"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ 


Umgangssprachlich kennen wir das unter dem Motto: 


„Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ 


Kant betrachtete den einzelnen Menschen als freies Individuum, als Person. Aus dieser persönlichen Freiheit leitete er die Verantwortung für das eigene Handeln gegenüber anderen Menschen und der Gesellschaft ab. Dieses Verhältnis von Freiheit und Verantwortung war für Kant aus der Vernunft begründet. 


Auf ganz andere Weise kommt der einzelne Mensch bei Caspar David Friedrich in den Blick, dessen 250.Geburtstag am 5.9.2024 ist. Gefeiert wurde mit einer großen Ausstellung „Kunst für eine neue Zeit“ in der Hamburger Kunsthalle schon früher. 


Friedrich versteht den Menschen nicht zuerst durch die Vernunft und die äußeren Beziehungen in der Gesellschaft, sondern von innen her. 


„Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“ 


Das Gefühl, ja auch der Glaube, das Verbundensein mit Gott, der Mensch in der Welt: einzeln in der Natur! Ein Bild, der Blick auf die Welt, will für ihn nicht erfunden sondern empfunden sein. 


Beiden, Kant und Friedrich, ist das ERKENNEN grundlegend. Bei Kant folgert die Erkenntnis aus dem eigenen Verstand, dem Denken. Bei Friedrich ist es die Empfindung, die zu einer tieferen Wahrnehmung - zur Erkenntnis führt. 


Vielleicht waren beide mit ihrer je eigenen Betonung des Individuums ihrer Zeit voraus. Und beide stellen uns damals wie heute vor die Aufgabe, das Verhältnis der individuellen Freiheit zur gesellschaftlichen Verantwortung zu bestimmen. 


In der Zwischenzeit - in den 250, 300 Jahren - hat eine ungeahnte Entwicklung in der Welt Raum gegriffen: Die Staatenbildung in Europa, die daraus folgenden Konflikte. Die Industrialisierung. Die beiden grauenvollen Weltkriege. Die Globalisierung. Der menschengemachte Klimawandel. Die Digitalisierung bis hin zur KI - zur künstlichen Intelligenz. 


Das alles betrifft die Maßstäbe von Kant und Friedrich: Die Vernunft und die Verantwortung genauso wie das Gefühl! Das Individuum in seinem Weltbezug. Und vielleicht stimmt der Titel der Friedrich Ausstellung der Hamburger Kunsthalle: „Kunst für eine neue Zeit!“ Vielleicht trifft die empfundene Vereinzelung in den Bildern Friedrichs den Nerv der Zeit. Die Wahrnehmung jeder Person, des je eigenen Lebens, scheint in die Vereinzelung zu führen: in das Alleinsein. Bezugsgruppen sind nicht mehr stabil und lösen sich teilweise ganz auf. Ihnen wird kein Wert mehr beigemessen. Sie tragen nicht mehr und werden deshalb auch nicht mehr getragen. Sie verlieren an Bedeutung für die individuelle Lebensgestaltung. Das ist in Vereinen, Institutionen, der Gesellschaft und auch in der Kirche so. 


Als Kirche sehen wir uns vor große Aufgaben gestellt. Wie können wir verantwortlich und vernünftig den veränderten Bedürfnissen Rechnung tragen? Wie können wir Strukturen sinnvoll so ändern, dass Menschen mit ihrem Leben und ihrem Glauben, ihren Sorgen und Nöten, ihren Freuden und Festen auch weiterhin Raum finden? Wie können wir dazu beitragen, dass der Glaube - die Beziehung zum Grund unseres Lebens, zu Gott - auch zukünftig in einer lebendigen Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht werden kann? 


Welche Gedanken, welche Bilder, welche Empfindungen müssen berücksichtigt werden? 


Was ist vernünftig? 


Was ist die Notwendigkeit des Einzelnen, die auch für die Gemeinde Gültigkeit hat? 


Sich diesen Fragen zu stellen, tut gut! Sie bringen ins Gespräch. Und ich glaube, dass das nach wie vor die Stärke unserer Kirche ist: Dass jede und jeder Einzelne sich mit dem eigenen Glauben in der Gemeinschaft in Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott setzen und wissen kann. Das ist für mich ganz persönlich - bei allem, was wir zu bedenken, zu beschließen und zu verändern haben - das Entscheidende.


Mit diesen etwas tiefergehenden Gedanken wünsche ich Ihnen allen eine gesegnete Sommerzeit!


Ihr Pastor Michael Ostendorf