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Offener Brief
Zur geplanten Bebauung des Gleisdreiecks Hamburg Billwerder
Michael Ostendorf, Pastor
Ev.-Luth. Kirchengemeinde
Moorfleet-Allermöhe-Reitbrook
Allermöher Deich 99
21037 Hamburg
0179/24 40 762
info@pastor-x.de
13. Oktober 2015
An den Leiter des Bezirksamtes Bergedorf
Arne Dornquast
Wentorfer Straße 38
21029 Hamburg
Vorab per Email
In Kopie:
- Senat der Freien und Hansestadt Hamburg
- Ev.-Luth. Kirchenkreis Hamburg-Ost: Pröpstin Ulrike Murmann
- Kommunalpolitisch Verantwortliche der Bezirkes Bergedorf
- Bergedorfer Zeitung
Lieber Herr Dornquast,
liebe Leserin, lieber Leser,
nun bin ich schon gut eineinhalb Jahre Pastor der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Moorfleet-Allermöhe-Reitbrook. Ich habe eine lange und intensive Gemeindeerkundungsphase hinter mir und lebe nun auch schon über 1 Jahr lang mit meiner Familie am Allermöher Deich neben der Dreieinigkeitskirche Allermöhe-Reitbrook. Durch viele Hausbesuche, Seelsorgegespräche und Gemeindeveranstaltungen kann ich schon ein wenig nachempfinden, wie das „Marschländer Herz“ schlägt! Und ich habe viel über geschichtliche sowie gesellschaftliche Zusammenhänge erfahren. Deshalb bilde ich mir nun überhaupt nicht ein, viel zu wissen oder gar etwas besser zu wissen. Wohl aber habe ich genug Empathie, mich in die lebensgeschichtlichen Situationen der Menschen und ihrer Familien - teils über Generationen - hineinzuversetzen und ihre Gedanken und Empfindungen nachzuvollziehen. Das gilt nun auch insbesondere für die gerade entstandene Situation im „Gleisdreieck“ und am Mittleren Landweg.
Gerne möchte ich Sie bitten, sich die Zeit zu nehmen und meinem Gedankengang ganz zu folgen!
Aufmerksam habe ich die Informationsveranstaltung am 6.10.2015 verfolgt und habe versucht die Redebeiträge seitens des Podiums zu verstehen. Damit keine Missverständnisse aufkommen, möchte ich das von mir Gehörte kurz skizzieren:
1. Die Senatsentscheidung lautet: Jeder Bezirk hat eine Fläche von ca. 8 Hektar für Großunterkünfte (800 Wohnungen bzw. 3000 Plätze) zur Verfügung zu stellen.
2. Die Bezirke haben daraufhin Flächen benannt und den Senat gebeten, die Nennungen wohlwollend zu prüfen.
3. Für Landschaftsschutzgebiete soll es qualitativ hochwertige Ausgleichsflächen geben.
4. Die Flächen werden von Investoren - zu einem Fixpreis? - erschlossen.
5. Für 15 Jahre wird die Unterkunft am Gleisdreieck von „Fördern und Wohnen“ als Flüchtlingsunterkunft verwaltet und betrieben.
6. Nach 15 Jahren wird das Quartier als sozialer Wohnraum weitergeführt. Fördern und Wohnen wird das Quartier verlassen und der Investor kann diese Sozialwohnungen dann vermarkten.
7. Anfangs können aber nur Flüchtlinge untergebracht werden, weil nur dieser Status einer Flüchtlingsunterkunft der Rechtslage entspricht, die schnelles Bauen ohne jegliche Beteiligung möglich macht. Dennoch wird schon innerhalb der 15 Jahre eine nicht nur aus Flüchtlingen bestehen Wohnbevölkerung angestrebt, wobei möglichst eine „gute Mischung“ entstehen soll. Dabei soll es Familien und Bewohner geben, die „nachbarschaftsstärkende“ Funktion haben - mitbringen - sollen.
8. Sie wollen die Infrastruktur der Unterkunft stärken. Die Rede war von Einkaufsmöglichkeiten, Ärzten, Kindergärten und Schule.
9. Der Bezug soll in 14 Monaten erfolgen.
10. Die Zahl 3000 ist nicht endgültig.
Hoffentlich habe ich die Dinge richtig dargestellt und Sie können meiner Darstellung so zustimmen! In ähnlicher Form habe ich den Sachverhalt auch in der Veröffentlichung der Hamburger Morgenpost gelesen.
Im Folgenden möchte ich im einzelnen auf diese Punkte eingehen. Vorher möchte ich aber etwas grundsätzliches zu den Marschlanden beitragen.
Die Hamburger Marschlande waren ehemals ein großes zusammenhängenden Landschaftsgebiet. Man sprach vom „größten zusammenhängenden Gemüseanbaugebiet in Europa“. Ein Großteil des Gebietes trug den Namen „Billwärder Land“. Es wurde ursprünglich von den Menschen hier sicher und bebaubar gemacht. Jeder Anlieger hatte Verantwortung für seinen Deichabschnitt. Dieser musste gebaut und erhalten werden. Es galt die Regel „Wer nicht deichen will, muss weichen!“ In dieser Geschichte liegt einer der Gründe für die hohe Identifikation der Menschen für ihr Land und Umland zugrunde. Diese Verantwortung wird auch heute noch gespürt und ist durch die Generationen weitergegeben worden.
Durch die Zeiten hat es immer wieder Strukturveränderungen gegeben. Einen tiefen Einschnitt in die Betriebe und Familien hatte damals (um 1910ff herum) der Ankauf von großen Flächen durch die Liegenschaft Hamburg. Diese sollen für unterschiedliche Entwicklungsmaßnahmen angekauft werden. Die Betriebe, Familien und Anlieger verloren durch den Verkauf Flächen. Der erzielte Gewinn fiel bei den meisten der Inflation von 1914-23 zum Opfer, weil kein entsprechendes und ortsnahes Ausgleichsland angekauft werden konnte. Bis auf den heutigen Tag hat dieser Verlust in den Familien Nachwirkungen.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Wohnsiedlung am Mittleren Landweg errichtet. Ausdrücklich für kinderreiche Familien. Der Bau der Häuser erfolge genossenschaftlich mit erheblicher Eigenleistung für die Errichtung aller Häuser. Niemand wußte, in welches Haus die eigene Familie einziehen würde, da nach der Fertigstellung das Los über die Zuteilung entschied. Auch hier wird wieder ein hohes Maß an Identifikation und Gemeinschaftssinn deutlich.
Die Menschen leben gern in „ihrer“ Siedlung und nehmen die strukturbedingten Schwierigkeiten in Kauf. Es gibt keine gute Kanalisation. Es wird mit „Sammelsickergruben“ gearbeitet. Es gibt keine gute Infrastruktur.
Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und Freizeitmöglichkeiten und Arbeitsplätze sind weiter entfernt. Man braucht einen PKW. Einzig die kleine Grundschule, das Kulturheim und die S-Bahnstation Mittlerer Landweg und der Sportplatz der Eisenbahn sind hier zu nennen. Die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr erfolgte bisher meist über das Auto und den Park&Ride Platz. Der Mittlere Landweg hatte seinen Einzugsbereich in den ganzen Marschlanden.
Es folgten weitere Strukturveränderungen:
- Planung und der Bau der Autobahn A1 (in den 60er Jahren gebaut) Autobahn A25 (vorläufig beendet 1981)
- Regattastrecke beim Zusammenfluss Gose- und Dove Elbe (Allermöhe, Reitbrook, Tatenberg: Ende der 60ger Jahre. Mitte der 80er Jahre wurde das Landesleistungszentrum errichtet)
- Boehringer (Moorfleet: 1984 wegen Dioxin geschlossen)
- Austausch von kontaminiertem Erdreich Billesiedlung (Moorfleet: 1991 Dioxinbelastung bekannt geworden. Sanierung Mitte 2001 endgültig abgeschlossen - jetzt teilweise Golfplatz)
- Ausweisung von Gewerbegebieten (Allermöhe, Billwerder, Moorfleet: IKEA 2002 ebenso Bauhaus, Billbrook)
- Güterumschlagbahnhof (Billwerder-Moorfleet)
- Neubaugebiete in Neu-Allermöhe (Ost 1982-1994 bzw. West in den 90ger Jahren; Stadtteil Zusammenschluss und Werdung: 2.1.2011)
- Bau des Großgefängnisses (Billwerder: 2003)
- Aufschlickung Feldhofe (noch nicht abgeschlossen)
- Ausgleichsfläche für die A26 (Ende 2012 - Östlich des Mittleren Landwegs)
Das ganze Gebiet ist seit Jahren im Strukturwandel begriffen. Die Veränderungen sind tiefgreifend. Und auch in den landwirtschaftlichen Betrieben gibt es seit Jahren Veränderungsprozesse. Gemüseanbau ist mit den kleiner gewordenen Flächen nicht mehr ausreichend gewinnbringend. Die billigere europäische wie außereuropäische Konkurrenz hat andere Rahmenbedingungen und kann billiger vermarkten. Viele Betriebe der Marschlande haben auf Gartenbau (Gruppenpflanzen und Blumen) umgestellt. Und auch diese Umstellung sichert die Existenz nicht unbedingt. Familienbetriebe werden nicht weitergeführt. Und wo sie weitergeführt werden, ist das mit übergroßem persönlichen Einsatz und Einschnitten verbunden.
Auf der Website www.hamburg.de wird das folgendermaßen beschrieben:
„Aber das Gewerbe ist rückläufig. In Moorfleet hat der Bau der A 25 dazu beigetragen, dass zahlreiche Bauern viel Land verloren haben und sich zum Teil andere Erwerbsquellen suchen mussten. So haben einige in den Aufbau von Reiterhöfen investiert.“
Es ist wirklich vieles in Bewegung und manches ist in den Familien und bei einzelnen noch längst nicht gut bearbeitet und ans Ziel gekommen.
In diese beschriebene Situation hinein kommen die unterschiedlichsten Überlegungen seitens der Stadt Hamburg. Vor nicht allzu langer Zeit gab es einen der Bebauungspläne für den Streifen von Billwerder-Moorfleet bis hin nach Allermöhe in der Bergedorfer Zeitung zu sehen. Es sah nach ziemlich konkreten Vorhaben aus. Und es scheint, dass die Liegenschaft vermehrt Grundstücke aufkauft oder Pachtverträge (Allermöhe, Moorfleet) nicht verlängert.
Vielleicht konnte ich Ihnen deutlich machen, dass die Region der Hamburger Marschlande fortwährend in einem Strukturwandel befanden und befinden. Für die angestammte Bevölkerung ist dieser Wandel immer wieder mit Veränderung und auch Verlust verbunden. Viele der Strukturmaßnahmen haben sich nicht positiv ausgewirkt. Manches steht unverbunden nebeneinander. Man kann hier von Beziehungslosigkeit oder gar Zersiedelung sprechen. Und alles in allem hat sich die Infrastruktur nicht nachhaltig verbessert. Ganz im Gegenteil: Die wenig vorhandene Infrastruktur wird durch diese Veränderungen zusätzlich belastet.
Noch einmal zwei Zitate von www.hamburg.de:
„Bei Badewetter heiß begehrt: Der Eichbaumsee - In Allermöhe lockt der Eichbaumsee zahlreiche Wasserratten an. Die Nähe zur A 25, der so genannten Marschenautobahn, macht die Stadtteile beliebt bei zahlreichen Firmen: Gewerbeansiedlungen gibt es in Moorfleet, Lohbrügge, Billwerder und Allermöhe. Speditionen, Handwerksbetriebe und Werften haben sich hier niedergelassen.“
und:
„Etwas abseits gelegen. Die Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist nicht optimal. Außer in Billwerder, wo es einen S-Bahn Anschluss mit drei S-Bahn Stationen gibt, von der eine Haltestelle auch für Anwohner in Allermöhe-West erreichbar ist, fahren die Busse oft nur sehr spärlich. Die meisten Bewohner haben ein Auto und möglichst nicht nur eines. Denn auch zum Einkauf ist man auf einen Wagen angewiesen.“
Mal ganz davon abgesehen, dass der Eichbaumsee schon lange nicht mehr wegen der hohen Algenbelastung als Badesee geeignet ist, spiegelt dieses Zitat die Lebensumstände der Region ganz gut wider. So ist es: Naherholung und Gewerbe! Manch Anwohner fühlt sich durch diese Veränderungen fremd im eigenen Lebensumfeld. Der Allermöher Deich ist beispielsweise gar nicht mehr in der Lage den Sommerbadeverkehr (Doveelbe/Regattastrecke und See Hinterm Horn) zu bewältigen. Massen von Autos parken diese wichtige Verkehrsader ständig zu, so dass es kein Durchkommen mehr gibt. Ganz ähnlich verhält es sich auf dem (gerade sanierten) Billwerder Billdeich.
Der nächste Schritt soll jetzt folgen: Die geplante Flüchtlingsunterkunft im Gleisdreieck (Billwerder/Allermöhe)
Dazu jetzt meine Anmerkungen:
1. Senatsentscheidung: Pro Bezirk 8 Hektar bzw. 800 Wohneinheiten
Der Senat hat offenbar eine Grundsatzentscheidung getroffen: Großeinheiten sind günstiger und schneller zu realisieren. Jeder Bezirk soll seinen Betrag leisten. Die nun veröffentlichten Zahlen und Flächen zeigen, dass in Rissen und in Billwerder einzig die Vorgaben erfüllt werden würden. Die anderen genannten Flächen sind zum Teil erheblich kleiner. Das erstaunt! Von einer Gleichbehandlung der Bezirke kann auf dieser Grundlage nicht wirklich gesprochen werden. Auch wenn sich die Flächen der jeweiligen Bezirke zur geforderten Größe addieren lassen sollten.
2. Die Bezirke haben Flächen benannt
Stimmt das wirklich? Ist es nicht vielmehr so, dass der Senat den Beschluss getroffen hat und daraufhin das Bezirksamt Bergedorf angewiesen hat, die notwendigen Genehmigungen kurzfristig zu erteilen? Die Bezirksversammlung konnte das dann nur noch zur Kenntnis nehmen? Mir wäre es wichtig, dass die Darstellung des Sachverhaltes klar und unzweideutig ist. Auf der Informationsveranstaltung am 6.10.2015 hatte es sinngemäß geheißen: „Der Bezirk hat vorgeschlagen und die Behörde (den Senat) gebeten, wohlwollend zu prüfen.“ Eine solche verklausulierte Sprache verschleiert und erzeugt den Anschein von Unwahrhaftigkeit. Dem kann man nicht vertrauen!
Außerdem hatte die Bergedorfer Kommunalpolitik doch mehrere kleine Flächen zum Vorschlag gebracht, die die geforderte Zahl von Plätzen (und darüber hinaus) erfüllt hätte. Warum wurde dieser Vorschlag nicht offensiver vertreten? Spielt hier parteipolitische Einflussnahme ein Rolle?
3. Hochwertige Ausgleichsflächen
Das (Landschaftsschutzgebiet?) Gleisdreieck stellt eine wichtige Verbindung (Biotopverbund) zwischen den Naturschutzgebieten Boberger Niederung und Reit dar. Es gibt dort außerdem eine problematische Tektonik mit Lehmbodenschichten sowie Grund- bzw. Oberflächenwasser. Vor ca. 4 Jahren hatte sich diesbezüglich schon eine Bewohnerinitiative erfolgreich gegen Bebauungsvorhaben eingesetzt. Die damaligen richtigen und stichhaltigen Argumente sind auch gegenwärtig gültig. Eine solche Fläche spielt eine wichtige Rolle in örtlichen Naturschutzkontext. Sie ist nicht durch ferne Ausgleichsflächen zu ersetzen - so hochwertig sie auch sein mögen. Die Bebauung dieser Fläche schneidet unwiderruflich (erneut) in den noch vorhandenen Biotopverbund ein.
4. Flächen werden von Investoren (zum Fixpreis?) erschlossen
Nach meinem Verständnis gibt die Stadt Hamburg damit wichtige Flächen aus der Hand. Mag es gegenwärtig günstig erscheinen, die Flächen von privaten Investoren erschließen zu lassen, so sind die Flächen doch langfristig nicht mehr seitens der Stadt Hamburg zu bewirtschaften. Sollte die Information des Fixpreises für die gesamte Errichtung dieser Wohnunterkünfte stimmen, ist damit ein weiteres Problem verbunden: Ein Fixpreis bedeutet engen Handlungsspielraum. Da die genannte Fläche aber sehr schwierig zu gründen und zu bebauen ist, ist zu erwarten, dass hier billige Lösungen gewählt werden. Seinerzeit musste schon das Gewerbegebiet Allermöhe um 2 Meter Sand aufgeschüttet (gespült) werden. Wahrscheinlich wird eine Pfahlgründung viel zu teuer werden. Deshalb wird eventuell wieder die Sandlösung gewählt werden. Was ist dann aber mit dem Wasserproblem und der Oberflächenentwässerung? Was ist mit den anliegenden (umbauten) Kleingärten und Häusern? Auf diese Fragen haben Sie, Herr Dornquast, auf der Informationsveranstaltung geantwortet, das sei Sache des Investors. Das heißt für mich letztendlich, dass Sie sehenden Auges und wider besseres Wissen Entscheidungen treffen bzw. zulassen und genehmigen und die Verantwortung dafür einem privaten Investor überlassen.
5. Fördern und Wohnen
Aus der Zusammenarbeit mit Fördern und Wohnen kann ich aus dem Moorfleeter Kontext gute Erfahrungen berichten. Dort in Moorfleet (ehemalige Schule an der Sandwisch) gibt es eine kleine Unterkunft, die - anders als ursprünglich behauptet - aber durchaus nicht von Menschen aus Syrien bewohnt wird. Die Mitarbeitenden dort bemühen sich um eine wirklich gute Nachbarschaft. Es gibt regelmäßige Treffen und Gespräche. Fördern und Wohnen hat sich am Marschländer Sommerfest 2015 auf dem Gelände des Kompetenzzentrums für Gartenbau beteiligt. Die von den Anwohnern befürchteten Probleme sind größtenteils ausgeblieben. Aber es ist eben auch eine kleine Einrichtung. Auf Konflikte kann schnell reagiert werden. Die Kommunikation funktioniert. Dennoch ist der Betreuungsschlüssel (eineinhalb Stellen) hier grenzwertig. Die Mitarbeiter leisten vieles über ihr Stundenkontingent hinaus ehrenamtlich. Und es fehlt an manchem: Dolmetscher, Menschen, die bei Behörden- und Arztbesuchen begleitend helfen, Hilfe beim Spracherwerb und vieles mehr. Außerdem musste die Bewohneranzahl erhöht werden, um den ohnehin schon geringen Personalschlüssel zu halten. Es ist absolut nicht verwunderlich, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiten von Fördern und Wohnen Anfang Oktober einen „Brandbrief“ an den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg gerichtet haben!
6. Sozialer Wohnungsbau
Es ist angestrebt, die Flüchtlingsunterkunft von vornherein als sozialen Wohnungsbau auszulegen. Es sollen „Steinhäuser“ werden. Konzeptionell ist es also ein Ineinander von Flüchtlingsaufnahme und anderer Wohnraumbeschaffung. Sie sind der Meinung, dass man im Rahmen der Flüchtlingskrise und den damit verbundenen Sonderregelungen dauerhaften sozialen Wohnungsbau durchführen kann. Sie überplanen damit in aller Kürze und auf Dauer angelegt ein großes Gebiet zwischen Billwerder und Allermöhe. Der Charakter dieses Gebietes wird die Größe eines Marschländer Dorfes von den Einwohnerzahlen bei weitem übertreffen. Weder Billwerder (1294) noch Allermöhe (1353) hat diese Zahl von Anwohnern. Und die Größe Ochsenwerders (2512) liegt gegenwärtig auch noch unter 3000 Einwohnern. Es wird also ein „neues Dorf“ entstehen, das größer sein wird als Billwerder und Allermöhe zusammen aber auf erheblich kleinerem Raum. Dieses neue Dorf wollen Sie unter Umgehung aller herkömmlichen Planungs- und Beteiligungsverfahren errichten lassen. Dazu benutzen Sie das sogenannte erleichterte Baurecht, das am 6.11.2014 vom Bundestag beschlossen wurde. Die Freie und Hansestadt Hamburg hatte ehedem die Initiative zu so einer Gesetzgebung ergriffen und eingebracht.
Das erleichterte Baurecht verfolgt meines Erachtens aber eben nicht die Intention einer dauerhaften Bebauung unter Umgehung herkömmlicher Antrags- und Genehmigungsprozesse. Es soll die vorübergehende Unterbringung von Flüchtlingen ermöglichen. Dieses von Ihnen forcierte Ineinander von Flüchtlingsunterbringung und sozialem Wohnungsbau halte ich juristisch nicht für korrekt und daher für anfechtbar. Außerdem erzeugt die Nichteinbeziehung der anliegenden Bevölkerung erhebliche Unruhe und das Gefühl „die da oben machen sowieso, was sie wollen! Wir haben nichts zu sagen. Unsere Sorgen und Ängste werden nicht wahrgenommen!“ So wird Demokratie leichtfertig ausgehebelt - Politikverdrossenheit gefördert. Der Integration von Flüchtlingen im Wohnumfeld tut so ein Anfang nicht gut! Ganz im Gegenteil: Menschen, die Hilfsbereitschaft und Engagement angeboten haben, werden verunsichert und sind über dieses politische und verwaltungstechnische Handeln verärgert.
Die direkten Anwohner am Mittleren Landweg (es sind ca. 300) hätten sich eine Unterkunft von 500-700 Flüchtlingen durchaus vorstellen können. Eine bis zu sechsstöckige Wohnbebauung für bis zu 5 Personen pro Wohneinheit (Zitat: Dorothee Stapelfeld) - 4000 Personen also, ist in die Struktur der Marschlande nicht integrierbar.
7. Nachbarschaftsstärkendes, stabilisierendes Wohnumfeld
Das Ineinander von Flüchtlingsunterbringung und sozialem Wohnungsbau wurde auf der Informationsveranstaltung auch durch ein „nachbarschaftstärkendes“ Wohnumfeld begründet. An dieser Vorstellung, die sich zuerst ganz gut anhört, habe ich erhebliche Zweifel. Denn es wird sozialer Wohnungsbau sein. Das heißt, die Menschen die dort irgendwann einziehen könnten und keine Flüchtlinge sind, werden die Berechtigung zum Bezug einer Sozialwohnung nachweisen müssen. Zumindest ein §5-Schein (Wohnberechtigungsschein) müsste das belegen. So einen Nachweis bekommt man nun aber eben nicht, weil man gut verdient und gefestigt ist, sondern, weil man diese Bezugsberechtigung aus sozialen Gründen notwendig braucht. So wird vom Senat die „Integrationsleistung“ nicht den wohlhabenden und gefestigten Menschen und Familien angetragen sondern denen, die aus welchen Gründen auch immer auf sozialen Wohnungsbau angewiesen sind.
Das halte ich ganz persönlich nicht für eine gute und sozialverträgliche Herangehensweise. Und es ist mir gänzlich unverständlich, wie so etwas von einem sozialdemokratisch geführtem Senat auf den Weg gebracht werden kann. Die gesellschaftliche Solidarität wird hier von denen erwartet, die sie eigentlich in einem viel höherem Maße selbst beanspruchen müssten. Gerade im sozialen Bereich wurde in den vergangenen Jahren erheblich eingespart. Und der Bau von Sozialwohnungen wurde allzu lange verzögert. Das 6000er Programm ist zwar von diesem Senat auf den Weg gebracht worden, aber das Ineinander von Flüchtlingsunterbringung und sozialem Wohnungsbau scheint mir erhebliches Konfliktpotential zu beinhalten und den erwarteten „Mehrwert“ ein „Nachbarschaftsstablilisierung“ zu karikieren. Diese Integrationsanstrengung muss von der ganzen Gesellschaft getragen werden und nicht allein von denen, die teilweise auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Diese angesteuerte „Unwucht“ ist mir gänzlich unverständlich!
8. Die Infrastruktur
Es wurde mehrfach gesagt, dass die Infrastruktur der Unterkunft gut ausgestattet werden sollte. Sie, Herr Dornquast, erwähnten hier: Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, Kindergärten und Schule. Das ist schön, gut, richtig und notwendig. Mir fehlen die Dolmetscher, Deutschlehrer, Sozialarbeiter, Therapeuten, Behördenmitarbeiter u.v.m.
Außerdem ist auch die Rede davon, die Klassen der Schule am Mittleren Landweg aufzustocken und das Gelände auszubauen. Klar ist aber auch, dass eine so kleine Schule nicht die Integrationsleistung für eine große Anzahl an Flüchtlingskindern leisten können wird. Gerade der Spracherwerb braucht die Möglichkeit des „Eintauchens“. Das heißt, eine große Gruppe von alltäglich muttersprachlich sprechenden Kindern kann einer kleinen Anzahl von Kindern - ungefähr 3 pro Klasse - die Möglichkeit bieten, in die „normal gesprochene“ Sprache einzutauchen. Der Spracherwerb geht also nicht allein über den Sprachunterricht sondern über den alltäglichen Umgang, das Miteinander der Menschen. Die angestrebte Größenordnung von 3000-4000 Flüchtlingen ist meines Erachtens weder vom Wohnumfeld (bei den Erwachsenen) noch von der Größe der Kindertageseinrichtungen oder der Schule (bei den Kindern) her vernünftig zu bewältigen.
Ich gebe auch zu bedenken, dass die Infrastruktur am Mittleren Landweg ohnehin schon mangelhaft ist. Der Mittlere Landweg ist die einzige Straße, die einen Zugang zur geplanten Unterkunft ermöglichen kann. Diese Straße ist aber schon jetzt überlastet. Die Parksituation für Pendler ist erheblich eingeschränkt. Der Park&Ride Platz wurde für die Erstaufnahmeunterkunft für Flüchtlinge aufgegeben. Die Straße ist tagsüber zugeparkt. Die Busse des HVV und VHH kommen oft nicht durch. Der Schulweg für die Kinder ist noch gefährlicher weil unüberschaubarer geworden. Wie sollen die weiteren 3000-4000 Menschen vernünftig in diese mangelhafte Infrastruktur eingebunden werden?
Ich frage mich auch, wie das Nebeneinander von Erstaufnahme und Folgeunterbringung in unmittelbarer Nähe funktionieren soll. Die Ungleichbehandlung ist direkt sichtbar. Hier aufgestockte Container dort feste Steinhäuser.
Hier breche ich meine Beobachtungen und Gedanken ab. Es ist ohnehin viel Lesestoff geworden. Und ich möchte Ihnen danken, dass Sie mir bis hierher gefolgt sind.
Abschließend lassen Sie mich bitte aber noch sagen, dass meine Sorge sich allein auf die angestrebte Größe der Unterbringung am Mittleren Landweg sowie auf den politischen Weg dorthin bezieht. Ich hege keine Vorbehalte gegen Flüchtlinge und Menschen, die auf unseren Schutz angewiesen sind. Auch unterscheide ich nicht zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen. Es gibt so viele Gründe, warum Menschen in Not geraten können. Und viele davon kann ich ernsthaft nachvollziehen. Rechtes und fremdenfeindliches „Gedankengut“ ist mir fremd und zuwider!
Manch persönlichem Statement, manch geäußerter Angst und manch unterschwelliger Fremdenfeindlichkeit muss ich grundsätzlich widersprechen. Wo Ressentiments geschürt werden, greife ich ein. Ich versuche zu vermitteln und zueinander zu bringen.
Das tue ich auch auf dem Hintergrund der Erfahrungen in den Marschlanden. Denn hier in Moorfleet gab es die ersten Morde mit rechtsradikalem und ausländerfeindlichem Hintergrund. Das war am 22. August 2015 vor genau 35 Jahren an der Halskestraße. Die Vietnamesen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân Ngoc sind durch einen hinterhältigen Brandanschlag ermordet worden. An der Veranstaltung zum 35. Jahrestag habe ich mich beteiligt. Ziel ist es, dort an der Halskestraße eine Gedenktafel anzubringen.
Wünschenswert wäre es auch, dass der Name der Halskestraße in die Namen der Opfer geändert werden würde. Leider findet dieses Gedenken seit vielen Jahren ohne „die Politik“ statt. Ich zumindest habe Menschen aus der Kommunalpolitik sowie der Hamburger Politik vermisst.
Aber aus solchen Ereignissen gilt es für mich zu lernen. Angst, Ressentiments und Hass sind keine Grundlage gesellschaftlichen Lebens. Nie! Dem gilt es entgegen zu treten.
Wichtig ist mir aber auch, dass Menschen in unserer Demokratie mitsprechen und mitentscheiden können. Gerade auch dann, wenn es um ganz eigene und persönliche sowie gesellschaftliche Belange geht. Das ist für mich jetzt bei der beschlossenen Bebauung des Gleisdreiecks am Mittleren Landweg aus den beschriebenen Gründen in Frage gestellt. Deshalb habe ich mir die Mühe gemacht, meine Gedanken, meine Einwände und meine Kritik zu Papier zu bringen und zu veröffentlichen. So kann vielleicht ein offener Diskurs darüber geführt werden. Das würde ich mir jedenfalls wünschen!
Mit freundlichen Grüßen
Michael Ostendorf